SabKeyes junior member Geregistreerd op: 04 Okt 2009 Berichten: 1
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Geplaatst: 5 Okt 2009 11:02:12 Onderwerp: Carlos 2015 – der Weg zurück |
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Kapitel 1 - Hyde Park
Langsam setzte im Hyde Park die Dämmerung ein. Die Tage wurden jetzt im Juli schon wieder ein wenig kürzer, London lag seit Wochen beständig unter einer Hitzeglocke und Regen war in diesem Sommer außergewöhnlich selten gefallen. Die kurzgeschnittenen Grashalme waren gelb und braun und raschelten bei jedem Schritt unter den Schuhen.
Carlos blickte auf die Uhr, legte Sonnenbrille und Buch neben sich ins Gras, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und streckte sich unter dem Baum, wo er den ganzen Nachmittag gelesen hatte, der Länge nach aus. Die untergehende Sonne beschien die Blätter, die sich in einer leichten Brise hoch oben im Wipfel sacht bewegten und vor dem wolkenlosen, blauen Himmel ein prächtiges Farbenspiel boten. Er hatte sein Buch schon fast ausgelesen, es war der neue Thriller von Ban Drown, den er sehr mochte. Er hatte den Band noch vor dem Erscheinungstermin in einer kleinen Buchhandlung in der Charing Cross Road bestellt und ihn vor drei Tagen gleich morgens abgeholt. "Das Geheimnis des Notenschlüssels", ein Roman über Verschwörungen in der Pariser Oper, hatte seine hohen Erwartungen noch übertroffen.
In spätestens einer halben Stunde musste er aufbrechen, um rechtzeitig bei der Chorprobe zu sein, er wollte sich nicht abhetzen müssen. Nicht mehr. Er war jahrelang um den gesamten Globus gehetzt, manchmal hatte er, wenn er morgens aufwachte, nicht einmal gewusst, in welcher Stadt er sich befand.
Carlos wischte sich den Schweiß von der Stirn. Unnütze Gedanken, er versuchte, sie wegzuschieben. Das war Vergangenheit. Die Gegenwart zählte. Er bewohnte seit fünf Jahren ein hübsches kleines Haus im Stadtteil Chelsea mit einem handtuchgroßen Garten, hatte sich als Produzent in der Londoner Musikszene einen Namen gemacht, und singen war nach wie vor seine große Leidenschaft - nur nicht mehr auf großen Bühnen. Er hatte sich vor einigen Monaten einem Chor angeschlossen, der mit einem bunt gemischten Repertoire hin und wieder in Kirchen auftrat, aber auch auf Stadtteilfesten oder runden Geburtstagen. Die Chormitglieder waren alles liebe, biedere Menschen aus der Nachbarschaft, sie liebten seine Stimme, aber niemand von ihnen wusste, wer er eigentlich war, sie hatten ihn erst kennengelernt, als er bereits bei Il Divo ausgestiegen war. Doch, eine kannte ihn: Shirley, die Chorleiterin, die vor Jahren ein großer Fan von Il Divo gewesen war, aber sie hatte ihm versprochen, niemandem etwas davon zu sagen. Dafür hatten sie sich in den vergangenen Monaten wunderbar angefreundet. Shirley war für ihn eine Art mütterliche Freundin, und er hatte ihr oft sein Herz ausgeschüttet.
Oben im Wipfel bewegten sich die Blätter stärker, jetzt spürte man die Brise auch am Boden, und die Hitze ließ etwas nach. Carlos seufzte und setzte sich auf. Er massierte seinen Nacken, sammelte nachdenklich seine Siebensachen in den Rucksack, schnippte ein paar Ameisen von der Decke, rollte sie ein und sah sich um, ob er nichts vergessen hatte. Dann machte er sich auf den Heimweg.
Aber er konnte sich von seinen Erinnerungen noch nicht losreißen. Genauso war das Wetter im Sommer vor fünf Jahren gewesen, dem Sommer, in dem alles anders wurde. "Fünf Jahre", sagte er sich im Takt seiner Schritte auf den staubigen Parkwegen, "Fünf Jahre. Fünf Jahre. Fünf Jahre". Wie in einem anderen Leben kam es ihm jetzt vor. Carlos hatte sich oft gefragt, was wohl schiefgelaufen war, und erst ganz allmählich kam er dahinter, dass er wohl sehr, sehr naiv und gutgläubig gewesen war.
Früher war er gerne unter Menschen gegangen, als Sänger war er anerkannt und angesehen gewesen, der Mittelpunkt jeder Party, und die Frauen - nun, die machten ihm fast alle mehr oder weniger deutliche Avancen. Er wusste, dass er gut aussah, und legte auch großen Wert auf ein gepflegtes Äußeres, maß dem aber längst nicht so viel Bedeutung bei, wie viele glaubten. Sein Kapital war seine Baritonstimme, und Singen war seine Leidenschaft, sein Lebensinhalt. Nichts anderes hatte er von Kindesbeinen an tun wollen, und er hatte das große Glück gehabt, sich mit viel Fleiß große Anerkennung zu erwerben.
Die Zeit mit den anderen Jungs von Il Divo war die bisher schönste seines Lebens gewesen, obwohl er anfangs große Zweifel hatte, ob das der richtige Weg für ihn sein konnte - sich mit drei anderen Sängern, die er bei Vertragsunterzeichnung noch nicht einmal kannte, zu einer Gruppe zusammenzufügen. "Cross Over", eine Mischung aus Klassik und Popmusik, sollte die Musikrichtung heißen, die diese vier überhaupt erst erfinden sollten. Er beriet sich mit seinen Freunden in Madrid und vor allem mit seiner Freundin Jerry, die ihm zuredete. Und das Projekt reizte ihn, er probierte gerne Neues aus, und als es endlich in einem Studio in Stockholm losging, hatten sie - dank der Professionalität der vier Akteure - gleich mit dem ersten Song "Regresa a mi" ihren Weg gefunden. Und sie hatten schon bald Erfolg. Riesenerfolg! Drei Tourneen standen sie miteinander durch, in den ersten zwei, drei Jahren hatten alle vier so hart gearbeitet wie noch nie in ihrem Leben - aber es hatte sich gelohnt. Vor dem amerikanischen Präsidenten hatten sie gesungen, vor Königen und Staatsoberhäuptern, sämtliche Konzerte waren völlig ausverkauft, die Fans vergötterten sie und überhäuften sie mit Geschenken und Blumen, sie hatten die ganze Welt mehrfach umrundet und oft in wenigen Wochen oder Monaten mehr erlebt als die meisten Menschen in ihrem ganzen Leben. Carlos hatte endlich seine langjährige Freundin und große Liebe Jerry geheiratet, eine wunderschöne Sängerin - alles schien perfekt.
Das Ende kam langsam. 2008 bekamen Sebastien und Renania ihre Zwillinge Iris und Luke, auch Urs und Tatjana hatten eine kleine Tochter, Olivia, und schließlich plante David im August 2009 die Hochzeit mit Grace - die Kollegen, die mittlerweile zu Freunden geworden waren, mit denen er nächtelang über Musik diskutierte, hatten plötzlich Familien, mit denen sie ihre gesamte Freizeit verbrachten, die Gesprächsthemen kreisten nur noch um die Kinder, es tat sich plötzlich eine Kluft auf, die keiner wollte, aber es ließ sich nicht ändern. Zudem war er, Carlos, gerade frisch geschieden, seine eigenen Zukunftspläne waren wie Seifenblasen zerplatzt, und so tat es ihm doppelt weh, die anderen in so harmonischen Beziehungen zu sehen.
Carlos war auch auf Familie vorbereitet gewesen, oh ja! Er hatte seine Jerry geheiratet und ein wunderschönes, geräumiges Haus mit großem Grundstück am Stadtrand von Madrid gekauft und eigenhändig umgebaut, wochenlang hatte er geschuftet, während Jerry im Studio ihre erste CD produzierte. Sie hatte sich kaum auf der Baustelle sehen lassen, sagte dann auch nicht viel zu den Plänen, die Carlos mit dem Haus hatte, fand alles sehr schön, aber verhielt sich merkwürdig passiv. Carlos sah ihr das nach, sie hatte viel Stress mit ihrer CD, brauchte lange, bis sie die richtigen Musiker beisammen hatte und konnte sich nicht auch noch mit den Plänen für das Haus beschäftigen.
Es war bereits Herbst, als es nach vielen Wochen harter Arbeit endlich soweit war. Im Oktober sollten die Promotion-Auftritte für die neue CD "The Promise" losgehen, und danach die Vorbereitungen auf die neue Tour ab Februar 2009. Carlos hatte Jerry stolz durch das fertige Haus geführt, das ein richtiges kleines Schmuckstück geworden war. Platz genug, mehrere Kinderzimmer, Gästezimmer, ein großer Rasen vor der Terrasse, in einer schattigen Ecke hatte er einen kleinen Sandkasten angelegt, drinnen eine offene Küche, sogar einen Kamin hatte er in dem riesigen Wohnzimmer noch einbauen lassen. Carlos hatte eigentlich erwartet, dass Jerry sich in ihrer lebhaften und fantasievollen Art ihr Zusammenleben in diesem Haus in leuchtenden Farben ausmalen würde. Die noch leeren Zimmer waren für jede Frau und erst recht für eine Frau mit Fantasie und Geschmack wie Jerry eine Herausforderung, sie einzurichten und zu dekorieren. Und Carlos hatte in den vergangenen Jahren so viel verdient, dass sie sich hätte aussuchen können, was sie wollte. Jerry blieb jedoch immer noch seltsam unbeteiligt. Carlos, der sie am Schluss des Rundgangs liebevoll in die Arme nahm und in ihren Augen nach Zustimmung suchte, musste irritiert feststellen, dass sie mit ihren Gedanken ganz woanders war.
Wie sich einige Tage später herausstellte, hatte seine angebetete junge Frau nicht nur mit der Gründung einer Familie überhaupt nichts im Sinn, ja, sie wollte offenbar noch nicht einmal in das neue Haus einziehen. Endlich rückte sie mit der Wahrheit heraus: "Nein, auf gar keinen Fall Kinder", erklärte sie eines Abends kategorisch, als sie in ihrer Eigentumswohnung in der Madrider Innenstadt die ersten Kartons für den Umzug packten, "ich muss an meine Karriere denken". In der Tat war ihre CD gerade erschienen und in Spanien immerhin ein Achtungserfolg. Jerry träumte von mehr, viel mehr sogar, und ihre hochfliegenden Pläne hatte Carlos manchmal insgeheim belächelt, trotzdem unterstützte er sie natürlich nach Kräften. Aber jetzt war er wie vom Donner gerührt, sie hatten doch immer eine Familie sein wollen, oder nicht? "Nein, auf gar keinen Fall", bekräftigte Jerry noch einmal, "und überhaupt habe ich mir das mit der Heirat damals gar nicht richtig überlegen können, Du hast mir ja quasi die Pistole auf die Brust gesetzt mit dieser Hochzeit in Las Vegas, und Miguel hat auch gesagt, dass..." Hier verstummte sie plötzlich und biss sich auf die Lippen. Carlos wurde hellhörig: "Ja? Was hat Miguel gesagt?" Miguel war der Gitarrist aus der Gruppe, mit der Jerry ihre CD eingespielt hatte. "Miguel hat auch gesagt, dass wir beide eigentlich gar nicht zueinander passen", trotzte Jerry, und ihre blauen Augen verengten sich zu Schlitzen, wie immer, wenn sie glaubte, sich verteidigen zu müssen. Wie eine Wildkatze sah sie dann aus.
In diesem Moment fiel es Carlos wie Schuppen von den Augen. So war das also - Miguel! Kein Wunder, dass sie so viel Zeit im Studio verbracht hatte, kein Wunder auch, dass der Umbau des Hauses sie nicht interessierte. Carlos fühlte, wie Wut in ihm aufstieg, sein Nacken prickelte. Er ballte die Fäuste und brüllte: "Hast Du denn kein Herz, auf das Du hören kannst? Musst Du einen anderen fragen, um zu wissen..." und hier musste er schlucken und fuhr leise fort "... um zu wissen, ob Du mich noch liebst?" Jerry drehte sich zum Fenster um und starrte wortlos hinaus. Carlos atmete heftig ein und aus, um sich zu beruhigen. "Ich verstehe", sagte er langsam, "Und das alles hat sich vermutlich abgespielt, als ich auf der letzten Tour unterwegs war, hab ich recht? Mein Gott, war ich blöd!" Dann fühlte er wieder Wut in sich aufsteigen. "Ich glaube, ich gehe besser, bevor hier noch etwas passiert" sagte Carlos nur noch, schnappte sich im Hinausgehen seine Jacke und den Schlüsselbund und knallte die Tür hinter sich zu. Vom Rest dieses Abends wusste er nicht mehr viel, nur, dass er durch mehrere Kneipen und Bars gezogen war und viel zuviel getrunken hatte. Es wurde schon hell, als ein Taxifahrer ihm half, die Haustür aufzuschließen. Leise schlich Carlos in die Wohnung - aber Jerry war nicht mehr da. Und sie kam auch nicht wieder.
Sie trafen sich nur einmal noch zufällig in der Wohnung, als Carlos einen Tag früher als geplant von einem Promotion-Auftritt in London zurückkam. Jerry hatte gerade ihre letzten Kleider abgeholt und prallte, mit einem Koffer in der Hand, an der Tür beinahe mit ihm zusammen. "Ich wollte Dir die Wohnungsschlüssel ohnehin hierlassen", sagte sie und stellte den Koffer einen Moment ab, "dann kann ich sie Dir ja gleich geben. Einen Zettel mit meiner neuen Adresse habe ich auf Deinen Schreibtisch gelegt. Meine Handynummer hast Du." Carlos nahm die Schlüssel und starrte Jerry an. "Das war's dann wohl", murmelte er. Jerry blickte zu Boden. "Ja, das war's dann. Es tut mir leid", sagte sie noch. Carlos richtete sich stolz auf: "Ich glaube Dir nicht, dass es Dir leid tut", sagte er mit Verachtung in der Stimme und hielt ihr demonstrativ die Wohnungstür auf. "Mein Anwalt wird Dich wegen der Scheidung anschreiben." Und dann war sie weg. Der Aufzug surrte nach unten, er hörte noch die Haustür zuschlagen, draußen ein Auto wegfahren und fühlte sich, als ob man ihm den Boden unter den Füßen weggezogen hätte. Tagelang war er nicht ansprechbar. Er lief ruhelos in der Wohnung umher, schaute überall nach, ob Jerry vielleicht etwas vergessen hatte, suchte nach einem Grund, sie anzurufen. Aber Jerry war gründlich gewesen, sie hatte nicht ein Stäubchen zurückgelassen. Sie war aus seinem Leben verschwunden.
Carlos schrak zusammen. Ohne es zu bemerken, war er inzwischen völlig in Gedanken in die U-Bahn eingestiegen, hatte aber zum Glück die richtige Linie erwischt. An der nächsten Station musste er aussteigen. Er schüttelte unwillig mit dem Kopf und drängte die Erinnerungen an den Sommer vor fünf Jahren zurück, die in ihm aufstiegen - er wusste, die Gedanken an das Ende von Il Divo würden immer noch schmerzen. Heute abend erst einmal die Chorprobe, danach ein gutes Glas Wein auf seiner kleinen Terrasse und das Buch zu Ende lesen, damit er auf andere Gedanken kam. Ja, das wäre heute das richtige. Nicht mehr grübeln.
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